Redebeitrag zu den Corona-Demos
Herr Nopper, in den letzten Tagen haben Sie einen Satz besonders häufig wiederholt: “Im Nachhinein ist man immer schlauer”. Das stimmt.
Insbesondere dann, wenn man im Vorhinein die Situation unterschätzt hat. Trotz vieler Warnhinweise. Vor dem Ausschuss für Inneres, Digitalisierung und Migration haben sie am Montag im Landtag behauptet, dass die Radikalisierung in Stuttgart erst am 3. April angefangen hätte. Ein Blick auf die deutschlandweiten Demos der Querdenken-Bewegung zeigt ein völlig anderes Bild.
Und ja, wir wissen, dass es sich bei jeder Demo um eine Einzelfallentscheidung handelt. Nichts von dem, was an diesem Samstag passierte, war eine *Überraschung* - man hätte auch vorher schon schlauer sein können. Es war von vornherein zu erwarten, dass sich eine Situation ergeben kann, in der der Infektionsschutz nicht mehr gewährleistet werden kann. Dabei geht es nicht nur um die Demonstration als Solche, denn die Teilnehmer:innen blieben nicht im luftleeren Raum oder nur unter sich: Sie besuchten Supermärkte, Kioske und fuhren mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln. Es wäre höchst fraglich davon auszugehen, dass diese Bewegungen innerhalb unserer Stadt stets unter Einhaltung der Masken-und Abstandsregelungen erfolgen. Und: Sie gingen wieder nach Hause, am nächsten Tag zur Arbeit, trafen sich in ihren Umfeld mit anderen, etc. Auch all das gehört bedacht, nimmt man das Infektionsgeschehen ernst. (Herr Köhler, bedenken Sie das?)
Dass es seitens der SSB heißt, es sei zu keinen Regelverstößen in den Bahnen gekommen, ist ... sorry ... absurd. In den sozialen Netzwerken wurde die Veranstaltung deutschlandweit beworben. Fragwürdige automatisierte Telefonanrufe versuchten, unzählige Menschen zu mobilisieren. Wie vertrauenswürdig ist ein Anmelder, der bei einer seiner Demos in Berlin 1,3 Millionen Menschen zählte, bei dieser Demo jedoch nur 2.000 Menschen anmeldete?
Man sollte zudem nicht vergessen, dass die Querdenkenbewegung ihren Ausgangspunkt in Stuttgart hat und hier gegründet wurde. In Weil am Rhein wurde zum Beispiel letzten Dezember eine Querdenken-Demo verhindert, weil es die pandemische Lage nicht zulasse. Das Bundesverfassungsgericht hat das bestätigt. Eines von vielen Beispielen. Wir hätten uns gefreut, eines dieser Beispiele zu sein. Selbst wenn das Verbot vor Gericht doch gekippt worden wäre, hätte die Stadt ein klares Signal an jene gesendet, die das Demonstrationsrecht missbrauchen. Und ein Signal an die große Mehrheit jener Stuttgarter:innen, die sich große Mühe geben, sich an den Infektionsschutz zu halten. Rein rechtlich haben Sie, Herr Nopper und Herr Maier, vielleicht richtig gehandelt. Aber haben sie auch den Ermessensspielraum ausgeschöpft, der Ihnen zur Verfügung stand?
Im Nachhinein hörte man von verschiedenen Stellen, die Demo sei friedlich verlaufen. Sachschäden und körperliche Gewalt konnte man nur wenig verzeichnen. Doch was ist mit jenen, deren Gesundheit durch eine Infektion bedroht ist, die sich am Karsamstag frei verbreiten konnte?Wer die Gesundheit anderer mutwillig in Gefahr bringt, handelt nicht friedlich. Im Vorfeld der Demo hatte ich bei einer Fraktionsvorsitzendenkonferenz auf das Thema hingewiesen und mich danach erkundigt, wie die Stadt mit der kommenden Demo (also jene am Karsamstag) umgehen wolle, mit welcher Strategie. Leider bekam ich keine Antwort. Auch hatte ich ein paar Tage vor den Demos eine Mailkorrespondenz mit Ordnungsbürgermeister Maier, in welcher ich ihm einen Screenshot der Querdenken-Bewegung schickte, in dem unmissverständlich und unverfroren deutlich wurde, dass sich diese Leute - egal unter welchen Umständen - in Stuttgart unter ihren eigenen Bedingungen breit machen werden.
Was passiert ist, ist passiert. Wir müssen nach vorne schauen. Heute sind wir alle schlauer. Auch jene, die die Querdenken-Bewegung unterschätzt haben.
Wir bleiben dabei: Das Versammlungsrecht ist ein hohes, schützenswertes Gut. Das gilt auch in Zeiten der Pandemie. Aber: Unter Einhaltung der Auflagen, unter Einhaltung der Infektionsschutzregelungen. Dennoch: Sie haben zurecht die zwei für den kommenden Samstag angekündigten Demos untersagt, dafür gibt es gute, richtige und wichtige Gründe. Diese Gründe wurden uns in aller Offensichtlichkeit von der Bewegung der Querdenker:innen selbst gegeben.Doch wird uns das vor einer Wiederholung der Situation am Karsamstag bewahren? Wenn man die Querdenken-Bewegung beobachtet, kann man davon nicht ausgehen. Sie wird Räume suchen und finden. Das muss allen allerspätestens jetzt klar und bewusst sein.
Eine Anmerkung zum Rechtsgutachten, das die Stadt in Auftrag gab. In der Pressemitteilung dazu stolperte ich über diesen Absatz, ich zitiere:„Auch hinsichtlich der Veranstalter der weiteren Corona-Versammlungen am Karsamstag hätten keine Erkenntnisse – weder der Stadt noch der Polizei – vorgelegen, die gegen ihre Zuverlässigkeit und ihre Bereitschaft zur Einhaltung der erteilten Auflagen gesprochen hätten.” Zitat Ende.Auch Sie, Herr Maier, wiederholten das in ihrer Rede vorhin mehrmals. Das lässt mich staunen. Denn: Wer sich ein bisschen mit der Querdenken-Bewegung befasst, KANN wissen, dass deren Bereitschaft zur Einhaltung von Auflagen entweder nicht (mehr) vorhanden ist, oder zumindest sinkt und sinkt.
Wer aber in der Verantwortung dessen steht, was am Samstag vor zwei Wochen in unserer Stadt passierte, MUSS das wissen. Das ist der springende Punkt. Es geht darum zu verstehen, wie diese Bewegung tickt. In Leipzig und Halle musste die Polizei unlängst 1.700 Polizeibeamt:innen einsetzen, um zwei nicht genehmigte Demos zu verhindern.
Und darum wiederhole ich jetzt meine Frage: Herr Oberbürgermeister Nopper, Herr Ordnungsbürgermeister Maier, Frau Koller als Leiterin des Ordnungsamtes, Herr Polizeipräsident Lutz und Herr Höfler als Einsatzleiter:
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Wie bereiten wir uns auf den kommenden Samstag vor?
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Wie werden wir in Zukunft mit Demoanmeldungen dieser Bewegung umgehen, die sicherlich kommen werden?
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Was ist ihre Strategie?
Uns ist wichtig:
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Wir wollen keine rechtsfreien Räume in unserer Stadt.
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Wir wollen, dass das Vertrauen in die Infektionsschutzmaßnahmen, die Politik, die Behörden und die Polizei nicht weiter geschädigt wird.
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Eines wollen wir nicht: dass sich die Infektion ein weiteres Mal in Stuttgart frei verbreiten kann.
Das sind wir all jenen schuldig, die seit über einem Jahr auf viele Grundrechte verzichten, sich an die Regelungen halten, die immense wirtschaftliche Einbußen haben, die sich täglich mit den Folgen der Pandemie auseinandersetzen müssen, die Menschen an das Virus verloren haben oder selbst erkrankten oder noch Langzeitschäden davon tragen. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Dieses Nachhinein ist jetzt.
Lasst uns gemeinsam schlauer handeln.