Rede von Christoph Ozasek zur Klimaneutralität 2035
Herr Oberbürgermeister Dr. Nopper, werte Kolleg*innen,
während wir heute in einem wohlklimatisierten Saal tagen, lodern in vielen Regionen der Welt die Flammen. Die Böden in den Kornkammern unseres Planeten sind durch jahrelange Dürre ausgezehrt. Die Zahl der akut an Hunger leidenden Menschen hat sich von Anfang 2020 bis Mitte 2022 laut den Vereinten Nationen auf etwa 345 Millionen Menschen verdoppelt. Verdoppeln wir diese Zahl nochmals, dann erfassen wir die Zahl der bis 2030 existenziell von Klimarisiken bedrohten Menschen. Viele werden in stabileren Zonen, wie der Region Stuttgart, Schutz suchen.
Doch auch hier versiegen Flüsse und Bachläufe. Die Grundwasserneubildung nimmt stetig ab. Unser Wälder sind schwer geschädigt. Viele Arten halten der Auflösung der Ökosystemgrenzen nicht stand. Kommunale Klimaprojektionen zeigen extreme Wirkmechanismen auf: Hitzewellen und Superzellen, Sturzfluten wie im Ahrtal, Starkregen, wie im letzten Jahr in der Stuttgarter Innenstadt, wechseln sich ab mit Hagel und Hochwasser.
Unsere Biosphäre wird sprichwörtlich aus den Angeln gehoben, und wir alle sind Chronisten der verheerenden Folgen und der menschlichen Schicksale. Wir können weltweit beobachten, wie die multiplen Krisen ineinandergreifen. Wie Regionen und Demokratien beginnen sich zu destabilisieren, weil die Energiesystemwende zu lange aktiv blockiert wurde.
Der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine macht selbst die Blindesten sehend: fossile Energie ist eine politische Waffe und Erdgas keine Brücke in eine erneuerbare Energiewelt. Es ist ein unverzeihlicher Fehler, dass die landeseigene EnBW nun Lieferverträge für US-Frackinggas bis 2046 abgeschlossen hat, und ihre Kraftwerke entlang des Neckars auf Erdgas umrüstet. Explodierende Energiekosten treffen die Schwächsten der Gesellschaft mit voller Wucht. Gasheizungen sind ein veritables Armutsrisiko geworden. Klimakrise: das ist jetzt, das ist hier.
Warum sage ich das? Weil heute ein kleiner Funke Hoffnung da ist. Eine weitere Großstadt, ein Zentrum der Industrieproduktion, ein Zentrum für Forschung und Entwicklung, bekennt sich zum Klimaabkommen von Paris. Der Gemeinderat, das Parlament der Landeshauptstadt Stuttgart, verpflichtet sich zur Klimaneutralität 2035. Das ist fürwahr ein symbolischer, aber auch ein historischer Beschluss.
Wir haben ein gemeinsames Ziel - aber einen zweifelhaften Fahrplan. Um diesen Plan, die erforderlichen Maßnahmen und Ressourcen, und über die Frage, wie viel Stahlbeton, wie viel Versiegelung fruchtbarster Böden, wie viele politische Wunschprojekte des Straßenbaus, Pfaffensteigtunnels, Konzerthäuser oder Sportstadien wir als Klima-Hypothek noch vererben dürfen, darum werden wir weiter gemeinsam streiten müssen.
Denn der Klimaelefant im Saal, die Bauwirtschaft, auf die fast 40 % der globalen Emissionen entfallen, wird von McKinsey hinterm Vorhang versteckt. Aber: Ohne die Bauwende, das zirkuläre Bauen, die Kreislaufökonomie, und ohne den Kulturwandel hin zu klimagerechtem Planen, wird globaler Klimaschutz scheitern.
Bis heute morgen haben wir um die Beschlussvorlage gerungen. Das Ergebnis ist ein politischer Kompromiss. Aber einer der trägt. Entscheidend ist:
1. Wir werden den Stadtwerken eine erhebliche Kapitaleinlage von 100 Mio Euro bereitstellen. Kombiniert mit Fremdkapital sprechen wir hier über Investitionen in Erneuerbare Energieprojekte und urbane Energiesysteme in der Größenordnung von bis zu 400 Mio Euro. Das ist eine vielversprechende Anschubfinanzierung. Deutlich mehr wird nötig sein. Auch für unsere SSB. (Solidarische Nahverkehrsabgabe)
2. Klimafolgen werden künftig bei allen klimarelevanten Ratsentscheidungen bemessen und im Rahmen eines CO2-Restbudget einem Monitoring unterzogen. Zugesagt ist zudem die Prüfung der vor- und nachgelagerten Scope-3-Emissionen bei Infrastrukturvorhaben. Diesen CO2-Footprint der Infrastrukturen sichtbar zu machen, war und ist PULS ein entscheidendes Anliegen, damit die Bilanz nicht geschönt ist.
3. Die soziale Verträglichkeit im Sinne der Klimagerechtigkeit muss zwingend Berücksichtigung finden. Insbesondere mit der Wohnungswirtschaft sind Vereinbarungen zu treffen, um wirtschaftliche Härten abzuwenden, die aus der energetischen Gebäudesanierung resultieren. Hier sollte als Commitment das Ziel der Warmmietenneutralität angestrebt werden. Und der Kfw40-Standard, also das Passivgebäude, als Mindeststandard im Neubau. Auch werden wir, um die Sanierungsquote auf 4,3 % pro Jahr steigern zu können, über serielle, fabrikmäßige Gebäudesanierung sprechen müssen. Die Niederlande machen mit dem „Energiesprong-Prinzip“ vor, wie Sanierung besonders ökonomisch und vor allem sozial stattfinden kann.
Klar ist, Stuttgart wird ein neues Gesicht erhalten. Die grün-blaue Schwammstadt muss unser Ziel sein: Ein schützendes Blätterdach über den Plätzen, offene Bachläufe wie der Nesenbach, eine grüne Gebäudehaut und entsiegelte Flächen: Das schafft Resilienz.
Die vielen leeren Dächer müssen Solaranlagen und Dachgärten aufnehmen. Windenergieanlagen und Wärmespeicher werden weithin sichtbar sein. Und die vielen Stadtgeländewagen müssen den Radfahrenden Platz machen, denn nur mit Flächengerechtigkeit gelingt die Mobilitätswende. Nicht mit einer massiven VVS-Tariferhöhung, werte Kolleg*innen. Und: Stuttgart benötigt endlich einen Hitzeaktionsplan für den ich seit 5 Jahren erfolglos werbe, um vor allem vulnerable Gruppen zu schützen. Uns sollte bewusst sein dass dieser Hitzesommer einer der mildesten in unser aller künftigen Leben sein wird.
Werte Kolleg*innen, Klimaschutz ist ein Generationenvertrag, den wir einlösen müssen. Ohne die Dekarbonisierung aller Lebensbereiche wird Stuttgart mit gigantischen Klimarisiken konfrontiert sein. Unsere Lebensweise, und die Produkte unserer hiesigen Industrie, dürfen nicht kommenden Generationen die Grundlagen für ein gutes Leben entziehen. Stuttgart muss im globalen Maßstab gerechtigkeitsfähig werden, deshalb wird es nicht ohne Suffizienz gelingen.
Heute fassen wir ein historisches Ziel. Aber den Mut, den Weg zur klimagerechten Stadt zu beschreiten, müssen wir in der kommenden Dekade aufbringen. Ich hoffe alle haben diesen klimapolitischen Imperativ auch verstanden.