84/2024 | Mehr Fluss wagen: Badegewässerqualität im Neckar herstellen
Interfraktioneller Antrag von PULS, Die Grünen, SPD und Einzelstadträtin Sibel Yüksel
Wir beantragen:
1. Der Gemeinderat beauftragt den Oberbürgermeister in Dialog mit den Anrainerkommunen, den Ministerien des Landes Baden-Württemberg sowie des Bundes zu treten, mit dem Ziel, bis zum Jahr 2035 durch einen Maßnahmen-gestützten Stufenplan unbedenkliche Badegewässerqualität im Neckar in Stuttgart herzustellen.
2. Als Zwischenziel wird bis 2027 ein tagesaktuelles Monitoring in Verbindung mit einem Ampelsystem implementiert, um das gefahrlose Baden im Neckar an geeigneten Flussabschnitten zu ermöglichen.
3. Der Verein Neckarinsel e.V. wird hierzu im zweiten Quartal 2024 in den Ausschuss für Klima und Umwelt eingeladen, um das Projekt „Wasserqualität“ vorzustellen. Der Verein, der Mitglied im IBA-Netz ist, zielt mit dem Projekt auf die Schaffung eines KI-gestützten Vorhersagesystems (SWIM:AI) ab (Kompetenzzentrum Wasser Berlin 2019).
Die Verwaltung soll ihrerseits berichten, welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit bestehen und wie die Ämter bereits jetzt unterstützen.
4. Zudem wird die Verwaltung gebeten zu berichten, wie perspektivisch mit den Abwässern u. a. aus dem Klärwerk Mühlhausen umgegangen wird – sowohl im Regelfall, als auch bei „Entlastung“, wenn die Regenüberlaufbecken nicht ausreichen –, um die Kontamination des Neckars, u. a. mit coli-Bakterien, langfristig zu senken.
Begründung:
Die Rückaneignung des Neckars ist eine Chance für Stuttgart. Bislang im Rahmen des Masterplans Neckar und Landschaftsparkprojekten „umspielt“, sollte er als stark kontaminiertes Gewässer in seinem Korsett als industriell überformte Bundeswasserstraße zielgerichtet aufgewertet werden. Mit dem politischen Beschluss, in einem Stufenplan Badegewässerqualität herzustellen, soll nun ein Transformationspfad zur multifunktionalen Inwertsetzung unseres Neckars aufgezeigt werden, denn die dringend notwendige sozial-ökologische Transformation macht den „Schutz der natürlichen Wasserressourcen“ notwendig (BMUV 2023). Dies gilt es vor allem im Hinblick auf eine stärkere Resilienz gegenüber klimawandelbedingten Multigefahren wie Hochwasser und Starkregen zu forcieren. Gerade Flüssen wird außerdem eine große Bedeutung für das Stadtklima zugeschrieben: Sie sind Quelle, Frischluftschneise und Naherholungsraum zugleich in immer heißer werdenden Städten. Der Naherholungsfaktor stärkt außerdem den Wirtschaftsstandort Stuttgart: gesunde Flüsse machen Städte für Fachkräfte attraktiv. Entstehen soll eine multicodierte Flusslandschaft mit Mehrwert für Mensch, Tier und Natur.
Die von uns vorgeschlagene Neckaroffensive verfolgt das Ziel, die Wasserqualität sukzessive zu verbessern, um bis 2035 das gefahrlose Baden im Neckar im Sinne der Parameter der Badegewässerverordnung zu ermöglichen. Wird die Wasserqualität auf Badewasser-Niveau angehoben, könnten zumindest gesicherte Badestellen ausgewiesen werden. Denn trotz der Aufwertung des Neckarufers mit weiteren Projekten in der Umsetzung und Planung im Zuge des Masterplans „Landschaftspark Neckar in Stuttgart – Stadt am Fluss“ wurden bisher keine Badestellen in Betracht gezogen.
Die Zugänglichkeit des Neckars in und um Stuttgart ist momentan stark eingeschränkt. Zum einen ist der Fluss kanalisiert und aufgestaut, um ihn für die Schifffahrt nutzbar zu machen. Zum anderen herrscht seit den 1950er Jahren ein polizeirechtliches Badeverbot für das Stuttgarter Stadtgebiet. Dafür verantwortlich sind nicht nur die steil abfallenden Uferkanten und Kanalwände, sondern auch die schlechte Wasserqualität (Stellungnahme der Verwaltung zu 9/2012). Durch eingeleitete geklärte Abwässer, überlaufende Mischwasserkanäle und Temperaturanstiege bietet das Neckarwasser eine produktive Umgebung für gesundheitsschädliche Bakterien. Das Landesgesundheitsamt bescheinigte dem Neckar 2019 eine kontinuierlich unzureichende Wasserqualität aufgrund mikrobiologischer Belastungen (Ausschuss für Umwelt und Technik vom 09.04.2019, Neckarwelle - Darstellung des Prüfungsergebnisses). Das zeigt, dass ein „Weiter so“ nicht zielführend ist. Stattdessen ist eine mit Maßnahmen unterlegte Gesamtstrategie erforderlich.
Ein im Rahmen der Neckaroffensive zu entwerfender Fahrplan für die Siedlungsentwässerung muss beispielsweise auf die Reduktion von Kanal-Mischwasserüberläufen ausgerichtet sein, zusätzliche Klärstufen zur Elimination von Spurenstoffen und Mikroorganismen vorsehen, sowie technisch auf die Einhaltung der mikrobiologischen Anforderungen an Badegewässer ausgerichtet sein. Außerdem muss der Eintrag kritischer Stoffe aus der Landwirtschaft verringert und die weiteren „Schmutzfrachten“ aus Abwässern und Abschwemmungen durch Begleitmaßnahmen vermindert werden.
Bis zur dauerhaften Verbesserung der Wasserqualität ist es ein weiter Weg. Ein KI-gestütztes Vorhersagesystem kann diesen Prozess begleiten, indem es jetzt schon Zeiträume aufzeigt, in denen im Neckar gebadet werden könnte. Das schafft nicht nur ein Bewusstsein für den Fluss in der Öffentlichkeit, sondern lässt auch Rückschlüsse auf Ursachen für die schlechte Wasserqualität zu.
Die Neckarinsel e.V. hat sich mit Unterstützung durch das Kompetenzzentrum Wasser Berlin gGmbH auf den Weg gemacht, mittels KI-gestütztem Monitoring der Wasserqualität den Zustand hinsichtlich der mikrobiologischen Verschmutzungen über einen längeren Zeitraum aufzuzeigen und dadurch eine erste Grundlage für die gefahrlose Nutzung des Flusses zu schaffen. Das System ist in Berlin bereits mit dem Flussbad e. V. Berlin praxiserprobt. Diese Aktivitäten wollen wir zielgerichtet stärken und hierzu die vorhandenen Kompetenzen der Stadtverwaltung bereitstellen.
Quellen:
[Kompetenzzentrum Wasser Berlin 2019]: Wolfgang Seis (2019) SWIM:AI. URL: https://www.kompetenz-wasser.de/media/pages/forschung/dienstleistungen/fruehwarnsystem-fuer-ba degewaesserqualitaet-datengetriebene-vorhersage-zur-gewaesserqualitaet-von-badestellen/924a94b 056-1660812217/swim-ai.pdf
[Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) 2023]: Referat W I 1 (2023) Nationale Wasserstrategie. URL: https://www.bmuv.de/themen/wasser-und-binnengewaesser/nationale-wasserstrategie/hintergrund-zu r-nationalen-wasserstrategie