9/2023 | Änderungsantrag zur GRDrs 820/2022 „Kostenfreies Deutschlandticket für städtische Mitarbeitende“

Wir beantragen, folgende Fragen im Zuge der Beratung der Gemeinderatsdrucksache 820/2022 zu beantworten:

1. Die Verwaltung erläutert, wie die Bezuschussung erfolgen soll, und ob diese pauschal in Form eines Gehaltsbonus ausgeschüttet wird - also nicht an die tatsächliche Nutzung des Tickets gebunden ist - oder - wie bisher im Rahmen des Firmentickets - über ein VVS-Abonnement erfolgt.

2. Die Verwaltung berichtet zum Stand der Umsetzung des Dienstradleasings für Mitarbeitende der Landeshauptstadt, das im letzten Haushalt beschlossen wurde, und gemäß GRDrs 177/2022 zum 4. Quartal 2022 angeboten werden sollte.

3. Die Verwaltung berichtet zum Stand der Umsetzung des betrieblichen Mobilitätsmanagements in der Stadtverwaltung, bei den Eigenbetrieben und den städtischen Beteiligungsgesellschaften, und stellt dar,

A. wie sich das Projekt „Kostenfreies Deutschlandticket für städtische Mitarbeitende“ in dieses betriebliche Mobilitätsmanagement einfügt und

B. welche Verlagerungseffekte innerhalb des Modal Split städtischer Mitarbeitenden zu erwarten sind.

4. Die Verwaltung ermittelt die Anzahl aktueller ÖPNV-Nutzer*innen unter Ihren Mitarbeitenden und legt diese vor.

Wir beantragen, folgenden Antrag ergänzend zur GRDrs 820/2022 zur Beschlussfassung aufzurufen:

1. Die Verwaltung unterbreitet dem Gemeinderat in einer Beschlussvorlage geeignete Maßnahmen, um die nicht-motorisierte/selbstaktive Mobilität der Beschäftigten der Stadt sowie der städtischen Beteiligungsgesellschaften in gleichwertigem monetären Umfang zum Deutschlandticket zu fördern, und ihnen so eine Wahloption zu bieten. Hierzu sind geeignete Modelle zur Stärkung der Radmobilität, u.a. das Förderprogramm der Stadt Ludwigsburg und das Programm zur Radverkehrsförderung in Bergamo, zu prüfen.

Begründung:

Die Bezuschussung eines kostenfreien Deutschlandtickets für städtische Mitarbeitende sowie die des Klinikums Stuttgart mit der Begründung, damit die verkehrs- wie umweltpolitischen Ziele der Landeshauptstadt voranzubringen, greift zu kurz. Von einem Verlagerungseffekt auf den Öffentlichen Verkehr durch Vermeidung von Kfz-Pendlerverkehr ist entgegen der Begründung im Beschlussantragstext der Vorlage nicht auszugehen.

Das bestätigen Erhebungen europäischer Modellstädte, in denen ein kostenfreier Nahverkehr angeboten wurde, wie auch nicht zuletzt die Bilanz der dreimonatigen Nutzung des Neun-Euro-Tickets aus dem Sommer 2022. Dass letzteres eine starke Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nach sich zog, impliziert nicht, dass dies auch bei einer Bezuschussung des Deutschlandtickets für die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung gelten wird. Bei einem überwiegenden Teil der neuen Nutzer*innen des Neun-Euro-Tickets sowie des Gratis-Tickets in europäischen Städten handelt es sich um Erwerbslose, Geringverdiener*innen, Studierende und Ältere - nicht jedoch um Berufspendler*innen. Deren Mobilitätsverhalten blieb weitgehend stabil. Die sozialen Effekte des ticketfreien ÖV im Hinblick auf Teilhabe sind durchaus positiv zu werten, die ökologischen Effekte jedoch kritisch.

Generell wird die Einführung eines Null-Euro-Tickets aufgrund der hohen Kosten und der relativ geringen positiven Effekte vom Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme der Universität Kassel nicht empfohlen.(1) Ohne ein umfangreiches Mobilitätskonzept begünstigt ein Gratis-Ticket weder die Entlastung von Straßenverkehr noch die Umwelt und auch nicht die individuelle Gesundheit. Statt einer Abnahme von Autoverkehr erzeugt ein kostenloser ÖPNV eine Verlagerung vom nicht-motorisierten Fuß- und Radverkehr auf den motorisierten ÖPNV und führt zu einer zusätzlichen Belastung. Unter klimapolitischen Gesichtspunkten ist der Gratis-ÖPNV ohne Einbettung in ein Mobilitätskonzept daher nicht zu empfehlen. Sinnvoll ist er nur, wenn zeitgleich starke Push-Elemente greifen, die die Nutzung des PKW unattraktiver oder teurer machen, und mit attraktiven Förderungen zur Fahrradnutzung, wie etwa dem JobRad oder Leihfahrrädern an Haltestellen, kombiniert werden.(2)

Durch die Eliminierung der Kosten für das Pendeln weiter Strecken wird zudem eine Zersiedelung befördert und damit der sinnvolle Ansatz, Wohnen und Arbeiten räumlich zu verweben, durchbrochen. Die steigende Pendeldistanz in der Region führt unter anderem zu einer Zunahme von Flächenfraß für Verkehrsinfrastruktur und dadurch der ökologischen Folgekosten insgesamt. Laut Statistischem Landesamt pendelten im Jahr 2020 rund 300 300 Erwerbstätige allein in die Landeshauptstadt.(3)

Während das Gratis-Ticket hohe Kosten für die Kommune mit sich trägt, ohne dass wirtschaftliche oder ökologische Vorteile erwiesen sind, ist die Förderung von Radfahrer*innen auch wirtschaftlich und unter Gesichtspunkten der Gesundheitsförderung sinnvoll. Ein mit dem Fahrrad zurückgelegter km kumuliert einen gesellschaftlichen Nutzen von etwa 30 Cent; ein mit dem Auto zurückgelegter km dagegen gesellschaftliche Kosten von 20 Cent pro km.(4) Darüber hinaus würde der Status als „fahrradfreundlicher Arbeitgeber“ die Vorbildfunktion der Stadt fördern, was sich auch positiv auf die Personalgewinnung und -bindung auswirkt.

Ausgehend von dieser Erkenntnis haben Kommunen sinnvolle Programme entworfen. Das Landratsamt Ludwigsburg bietet als fahrradfreundlicher Arbeitgeber seit Januar 2023 ein Kilometergeld für Mitarbeitende, die mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen und das im Rahmen eines Mobilitätsmanagements.(5) In Bergamo belohnt eine Initiative der Stadt Radfahrende in Form von Kilometergeld, das als Gutschein in Läden in der Innenstadt eingelöst werden kann.(6) Die Prämie kommt so nicht nur den Radler*innen und dem Klima, sondern auch dem lokalen Handel zu Gute.

(1) Sommer, C. Stellungnahme zum Thema „Künftige Modelle zur Finanzierung und Organisation des ÖPNV“, Öffentliche Anhörung am 13.01.2021 in Berlin, URL: https://www.bundestag.de/resource/blob/816350/a0cc03ffdc87a8f8c6b2731b5bb30f7d/19-15-442-B-d ata.pdf

(2) Nefzger, E.: Niemand steigt aus dem Auto, nur weil der Bus gratis ist. (15.02.2018), URL:

https://www.spiegel.de/auto/aktuell/kostenloser-nahverkehr-city-maut-ist-die-bessere-alternative-a-11 93605.html

(3) Statistisches Landesamt Baden-Württemberg. 3,66 Millionen Berufstätige pendeln in Baden-Württemberg (05.01.2022). URL: https://www.statistik-bw.de/Presse/Pressemitteilungen/2022005

(4) Gössling, S. (2017). Kostenvergleich Auto-Fahrrad, Deutschland: Berechnungsannahmen. Lund Universität Schweden. URL: Prof. Dr. Stefan Gössling: Kostenvergleich Auto-Fahrrad, Deutschland: Berechnungsannahmen

(5) 30 Cent für jeden Kilometer der einfachen Wegstrecke zur Arbeit, gedeckelt auf 80 Euro im Monat analog zum ÖPNV-Fahrtkostenzuschuss. Laut Umfrage von 2020 nutzten rund 13 Prozent der Mitarbeitenden das Fahrrad, obwohl über 60 Prozent in „fahrradtauglicher“ Entfernung von unter 15 Kilometern wohnen. Ziel ist eine Steigerung dieses Anteils auf mindestens 24 Prozent bis zum Jahr 2030. Pro gefahrenem Kilometer werden ca. 138 g CO2 vermieden. URL: https://www.landkreis-ludwigsburg.de/de/landratsamt-landkreis/aktuelles/pressemitteilungen/detail/kli mafreundliche-mobilitaet-landratsamt-foerdert-radfahren/)

(6) Italien: Radfahren zahlt sich aus! (2022). Arte. https://www.arte.tv/de/videos/112098-000-A/italien-radfahren-zahlt-sich-aus/

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